‚Herr Major - verzeihen Sie mir eine nur scheinbare Zudringlichkeit. Aber Sie interessieren sich für eine Frau Editha Schlinger. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß es diese Dame zweimal gibt.‘
Das ist ja Unsinn! Wenngleich zutreffend.
‚Herr Major - ich möchte Ihnen, da ich nun einmal die Gelegenheit habe, mit Ihnen zu sprechen, eine Tatsache mitteilen, von der ich mich mit eigenen Augen überzeugen konnte. Also: Es gibt die Frau Schlinger zweimal!‘
Das ist ja unmöglicher Blödsinn. Dennoch richtig.
„Herr Major - ein gemeinsamer Bekannter von uns beiden, der René Stangeler und ich, sind am Freitag dem 28. August abends am Westbahnhof zufällig zusammengetroffen, weil wir beide jemand abzuholen hatten. Dabei ist uns Frau Editha Schlinger, welche Sie ja kennen, doppelt begegnet…“
Das war ja Stuß. Wenn auch die reine Wahrheit.
aus Heimito von Doderer, „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“, Jubiläumsausgabe 2013, Seite 727
Daniel Bischoff, 2. Juli 2020
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Der Künstler tritt ins Leben, um etwas Geheimnisvolles zu verwirklichen.
Er ist eine seltsame Erscheinung.
In der menschlichen Gesellschaft erwartet ihn nichts.
Odilon Redon
Berge, Tunnel, Träume.
Keiner weiß woher noch wohin,
und am Ende der Wunsch
es möge die Zeit eine
Zuflucht sein
und nicht der Jäger.
Markus Putze, 20. Juni 2020
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Jasmin Schmidt - push and pull
Eine leere Schachtel Pralinen. Schwer fällt die Entsorgung des Verpackungsmülls. Zu edel das kleine geprägte Blechdöschen, zu zierlich, zu vollkommen, zu unversehrt die kleinen, an Spitzenkragen aus Renaissance erinnernden Papierkapseln. Die Abstandhalter, die Integritätsbewahrer, die zuvor Berührungen zwischen verschiedenen Pralinentypen verhinderten. Zierliche Begrenzungen, gefaltete Schlagbäume gegen von außen eindringende Geschmacksverirrungen, vollkommen fett- und kalorienfreie Andenken an das Süße, an die Sünde. Erworben wurde die Pralinenschachtel im gefüllten Zustand auf einer Städtereise in einem ganz besonderen Lädchen, in einem besonders schönen Fachwerkhäuschen, in einem Altstadtgässchen, wo ein junges Paar sich einen Traum verwirklicht hat: Eine kleine Manufaktur, Liebe zum Handwerk, fair gehandelte Rohstoffe, sorgsam ausbalancierte Geschmacksnuancen, bewusst ausgesuchte Schürzchen in denen sie Kunden bezirzen und verführen.
Hier handelt man mit dem Besonderen, und damit gemeint sind nicht etwa die leckeren Pralinchen, nein, das Besondere selbst ist das Produkt, die handgemachte Süßigkeit nur eine seiner austauschbaren Manifestationen. Gerne erzählen die Geschäftsinhaber*innen von dem vollzogenen biografischen Bruch, von der Abwendung vom entfremdeten Leben und der Hinwendung zur liebevollen Schokoladenfummelei. Der Kunde lauscht und greift zum Geldbeutel.
Das Besondere, das war mal eine kulturelle Zuweisung mit Ewigkeitscharakter. Heute aber ist es eine genauso einfach zu behauptende wie zu dekonstruierende Produkteigenschaft, die jede*r Produzent*in einfach so vergeben darf.
Das Besondere, das ist das Haus- und Handgemachte, das lange Zeit nur noch als mangelhaftes Vorläufermodell der präzisen, industriellen Produktion betrachtet wurde. Es gilt als Repräsentant einer Liebe zu den Dingen, die lange nicht mehr wusste, wie sie sich ausdrücken, wie sie sichtbar oder schmeckbar werden sollte. Das Besondere ist flüchtig, ein kurz nur anhaltendes Gefühl, also schnell nach Hause rennen und die Pralinchen flugs verspeisen, bevor sich in den eigenen vier Wänden eine gräuliche Gewöhnlichkeitsschicht über die konserverierungstofffreie Schokolade legt. Mit jedem Bissen verschwindet das Besondere im Körper des Menschen, breitet sich aus, hinterlässt Spuren. Es verschwindet, schmilzt langsam auf der Zunge, transformiert sich in Fettablagerung und erhöhtem Blutzuckerspiegel.
Die Papierkapsel, in der das Besondere anreiste, liegt Tage nach dem Verzerr noch als Erinnerungsstück auf dem Kaffeetisch. Die Reste des Besonderen kleben noch an ihr. Doch davon weiß die Kapsel nichts, will es auch nicht wissen. Sie fühlt sich frei, ist den Fängen des Pralinenpärchens im restaurierten Fachwerkhaus entkommen. Unbemannt, alle Pralinen über Bord, macht sie sich auf zu Erkundungsflügen. Second life im Schwebezustand. Öffnet man das Fenster fliegt sie durch den Raum, durch die ganze Wohnung, eine Rentnerin im zweiten Frühling der Funktionslosigkeit. Endlich frei vom Besonderheitsdienst, frei von Zuweisungen. Einst Industrieprodukt verwickelt in die Mechanismen von Kultur und Markt, jetzt endlich frei und selbstbestimmt. Keiner mehr, der an ihr zerrt. Und dann sinkt es langsam, sanft zu Boden, bereit dazu, entsorgt zu werden. Es wird auferstehen, als Bestandteil eines ganz besonderen Buches, als Bäckertüte oder Klopapier. Es sind andere, die das entscheiden.
Carsten Tabel, Leipzig
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Ladislav Zajac - Every Color Travels At The Speed Of Light
Deep Amber
Lime Green
Flesh Pink
Pale Navy Blue
Loving Amber
Cosmetic Burgundy
Virgin Blue
Waterfront Green
Rosy Amber
Magical Magenta
Special Lavender
Apricot
Silver Rose
Ice Blue
Fern Green
Perfect Lavender
Summer Blue
Gold Tint
Peacock Blue
Bright Rose
Elysian Blue
Bright Pink
Millenium Gold
Marine Blue
Pink Carnation
Spring Yellow
No Color Blue
Mauve
Ultimate Violet
Lilac Tint
Deep Straw
Aqua Blue
Mustard Yellow
Electric Lilac
Provence
Middle Rose
Steel Blue
Surprise Peach
Nur weil der Weltraum leer ist, erscheint uns das Licht der Sonne weiß. Im Vakuum des Alls bewegen sich alle Farben gleich schnell. Der leere Raum kennt keine Hierarchie.
Ladislav Zajac, 11. Juni 2020
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CRISIS? WHAT CRISIS?
Als ich kürzlich in meiner Plattensammlung stöberte, fiel mir das Album von Supertramp in die Hände: „Crisis? What Crisis?“ aus dem Jahr 1975. Damals, im Alter von 14 oder 15, habe ich die Platte vor allem wegen des Covers gekauft. Das Bild hat nichts an Aktualität verloren - im Gegenteil.
Der Titel des Albums bezieht sich auf den Film „Der Schakal“, ein britisch-französischer Thriller aus dem Jahr 1973, der auf dem gleichnamigen Roman von Frederick Forsyth basiert. Er schildert, an historische Abläufe angelehnt, die minutiöse Planung eines Attentats auf den französischen Präsidenten Charles de Gaulle und das Katz-und-Maus-Spiel des Attentäters mit der französischen Polizei.
Das ironische Katastrophenbild auf dem Plattencover spiegelt nicht direkt diese Bezugskette, es stellt vielmehr einen neuen Zusammenhang her. Bild und Schrift beziehen sich dabei klar aufeinander. Damals interessierte mich vor allem das Bild. Heute reizt mich der Titel selbst. Seit Wochen wird in fast allen Zusammenhängen nur noch von der Krise gesprochen. Auch wenn die Lage weltweit weiter kritisch ist: Wir Menschen haben oft irgendwelche Krisen. Das fängt im Privaten an und endet im Globalen. Die Frage allgemein zu stellen, ist für mich die Antwort auf die aktuelle Krise.
In meinem Bild B646 verzichte ich auf jegliche Bildinhalte und Satzzeichen. Die Schrift ist das Bild. Ich gestalte es mit drei Zeilen in Großbuchstaben, die sich überlagern. Die Spiegelschrift im Hintergrund macht das Bild räumlich. So verstanden kreist das Wort „Crisis“ um das Wort „What“. Gleichzeitig bezieht die Spiegelschrift den Betrachter mit ein.
Ich wählte für die Wörter „Crisis“ die Typografie „Rockwell“. Die ausgeprägten Serifen und das übergroße „C“ und „R“ zeigen fast comicartig den kehligen Laut des Wortes und sind nicht weit vom bekannten GRRRR des genannten Genres entfernt. „What“ bleibt bildzentral nüchtern in „Arial“. Die Farbe vermittelt auf den ersten Blick poppige Fröhlichkeit, Rot und Orange vibrieren durch ähnliche Helligkeit auf dem türkisfarbenen Hintergrund.
Auch nach dieser Krise wird es weitere Krisen geben.
In diesem Sinne: Let’s rock the crisis!
Ben Hübsch, Juni 2020
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Wer will, kann sich – nachdem die Museen nach den Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wieder zaghaft geöffnet haben – selbst ein Bild von dem gravierenden kulturellen Unterschied machen, der zwischen dem durch den Sensationssieg über Frankreich ins militaristisch-imperialistische Korsett der Staatsnation gezwungenen Deutschen Reich und der so genannten grande nation, ihrerseits eine sehr deutsche Zuschreibung, samt seiner durch und durch modernen, auch als Konsequenz einer langen Reihe von Revolutionen ausdifferenzierten Zivilgesellschaft bestand. Machen wir den Unterschied an der Luft, dem Licht fest: dem Kontrast, den sinnfällig erlebt, wer in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel, nachdem er die wirklichkeitsgesättigte Berliner Luft Adolph Menzels geschnuppert hat, ins bläulich-kühle und zugleich energetisch vibrierende Licht des Impressionisten-Saals in der zweiten Ausstellungsetage tritt und den Blick nach links, auf Monets Saint-Germain-l'Auxerrois Paris richtet. Nicht, dass der Akribiker Menzel kein Moderner gewesen wäre. Um das bestätigt zu finden, brauchen wir uns gerade seine späten Bilder des wimmelnden Pariser Großstadtlebens nicht, sehr wohl aber sein frühes Berliner Hinterhaus und Hof anzusehen. Allein seine Umgebung, das Berlin der Preußenkönige, war es nicht. Oder besser: nicht mehr. Verlorengegangen war die Idee einer auf Basis des Kulturellen verfassten Nation, getragen von regionalen Kosmopoliten, wie sie der Historiker Friedrich Meinecke ex post beschrieb. Und auch die Gegenprobe funktioniert. Im Gegensatz zum fahlen Licht, der leeren Luft, die in den konzeptuellen Landschaftskonstruktionen eines Caspar David Friedrich herrschen, lässt sich unter der Pariser Sonne frei atmen – freier atmet auch heute selbstverständlich der, der über etwas Geld in der Tasche verfügt. Egal ob in Berlin oder in Paris, die Sonne kennt keine Gleichheit.
Die Butterfahrten Hugo von Tschudis nach Paris, die eine Handvoll Meisterwerke jener Künstler, die man ohne recht zu wissen warum als ‚Stil’ des Impressionismus‘ kanonisiert hat – und damit bis heute die damit verbundenen künstlerischen und kunstsoziologischen Errungenschaften unterschlägt –, nach Berlin brachten, waren zugleich Shoppingtouren und Bildungsreisen. Was auch dank der Expertise Max Liebermanns rechtzeitig zum Fundament der modernen Kunst in Berlin wurde, kostete Tschudi erst sein Amt als Direktor der Berliner Nationalgalerie. In München wurde er Zielscheibe des reaktionär antimodernen „Protests deutscher Künstler“, verfasst von Carl Vinnen, der das bisschen Modernität, das er in Worpswede kosten konnte, in den falschen Hals bekam. Daher vielleicht der aufgebrachte Ton des frühen Wutbürgers. Allerdings hat sich Herders „Volksgeist“, einst konzeptuelle Grundlage der alten Kulturnation, als rassifizierter Ungeist längst zu substanzialisieren begonnen und ist als Nachwehe dort zu spüren, wo sich ein kleiner Teil der Bevölkerung als Volk fühlt und als Pack geriert.
Das bläulich-kühle Licht von Paris ist nicht von Ungefähr zum Element und Thema der neuen Arbeiten von Thilo Westermann geworden. Er hat es regelrecht zu eigen gemacht: einen Ausblick über die Pariser Dächer auf den Eiffelturm in die Cadrage seines Atelierfensters in der Cité internationale des arts einmontiert – aus plausiblen Gründen. Schließlich wissen wir von Jacques Rivette, dass, gehören uns erst einmal die Dächer, selbstverständlich ganz Paris gehört. Und über den Unterschied zwischen Menzels Berliner Luft und Monets Pariser Licht habe ich oben schon gesprochen.
Westermanns handwerklich und wissenschaftlich gleichermaßen informierte Kunst basiert auf dem Kontrast zwischen einer einerseits ziemlich flaneurhaften, andererseits penibel-fleißigen Art und Weise der Aneignung. Beide Seiten treffen sich in der Reproduktion seiner Fundstücke: ihrer behutsamen Exponierung als geduldig ausgeführte Hinterglasmalerei und der pragmatischen fotografischen Vervielfältigung, die nicht zwangsläufig Menge erzeugt, sondern Skalierung erlaubt. Allerdings brauchen wir ja nicht unbedingt weiter mühsam in Worte fassen, was sich mit sehr viel größerem Plaisir betrachten lässt. Handwerk, selbst das kunstvollste, war immer Handwerk und jede Blüte ist schön.
Die Kunst, über die es sich zu reden lohnt, setzt an einer anderen Stelle an und realisiert sich in temporären Arrangements von Bildern, die Art wie Westermann sie an spezifischen Orten, etwa am Schreibtisch eines Pariser Ateliers oder dem Kaminsims in der Wohnung von Freunden zueinander in Beziehung setzt. Auch, wie er Bildelemente migrieren, in andere Bildzusammenhänge wandern lässt. Das ist als Akt oder Verfahren ‚diskursiv’, vom Format her betrachtet ‚Ausstellung’ und im künstlerischen Sinne ist es ‚Arbeit’, worüber es sich zu sprechen lohnen sollte. Betrachten Sie diesen Text als Doppelpunkt dazu.
Hans-Jürgen Hafner, Kunstkritiker, Autor und Ausstellungsmacher (Berlin, Mai 2020)
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Es sind komplex aufgebaute, räumliche Gebilde mit teilweise unendlich wirkender Tiefe und verführerisch funkelnden Oberflächen: Edelsteine. Auf kleinstem Raum ist hier Licht geborgen, das durch Brechen, Polieren, Facettieren – quasi durch den letzten Schliff vollendet und zum Blickfang werden kann. Erst die Bearbeitung dieser Mineralien bringt ihre Leuchtkraft und Farbintensität hervor. Die aus den Tiefen der Erde gewonnenen Edelsteine vermitteln Kostbarkeit, Einmaligkeit, Ansehen und Macht, haben Symbolgehalt wie Zeichencharakter und dienen letztlich immer der Repräsentation von etwas „Anderem“.
Edelsteinmotive stehen im Zentrum von Gerhard Mayers neuer Werkserie.
Er habe - nach einer Phase gegenständlich orientierter Malerei - wieder abstrakt malen wollen, sich dabei an kubistischen Räumen orientiert und zunächst auch kleine Modelle gebaut. Erst dann habe er angefangen zu malen. „Einen Tag brauchte ich, um das erste Bild dieser neuen Serie zu vollenden“. Und wie von selbst habe es sich ereignet, dass ein Bild entstanden sei, das einem Edelstein gleicht. „Der Stein ist zu mir gekommen“, betont er beim gemeinsamen Betrachten der neuen Serie. Er selbst sei verwundert und gleichermaßen fasziniert gewesen über diese „Erscheinung“. Erst dann habe er begonnen, über die Herkunft, Struktur, Farbe und Form sowie die Bedeutung von Edelsteinen zu recherchieren. Dabei haben plötzlich auch das Wesen der Steine und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften sein Interesse geweckt.
Wie schon in früheren Werkreihen spiegeln auch diese Bilder Gerhard Mayers Auseinandersetzung mit Materie, Raum und Zeit sowie dem Wechselspiel zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und künstlerischer Transformation wider. Mit unterschiedlichen bildnerischen Mitteln hat er immer wieder systematisch Räume zerlegt, sie teilweise regelrecht gesprengt, um diese dann mit neuer Identität – bei den Edelsteinbildern Facette für Facette – wiederaufzubauen. Er öffnet und schafft durch gezielte Lichtregie imaginäre Räume.
In Zeiten, in denen täglich die Öffnung und Schließung von Räumen verhandelt wird, manche sich am liebsten in die hintersten und tiefsten Winkel verkriechen möchten und andere Sehnsucht nach Unbegrenztheit haben, lassen sich diese Aspekte – die Dialektik von Innen und Außen – gar nicht wegdenken. Ins Auge springen dabei aber zuerst die Lichtblicke …
Claudia Marquardt, Kunstvermittlerin, Neues Museum Nürnberg
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Ein auratisches Objekt, streng und anmutig zugleich. Eine helle, leere Tafel, zu den Rändern bräunlich-golden schimmernd, mit schlichtem, doch exquisitem Rahmen, der in Gold und Silber gefasst ist. Die leere Oberfläche der Tafel zieht den Blick ins Ungefähre, ins Nichts. Oder handelt es sich eher um einen raffiniert konstruierten, flachen Schrein mit ausgesuchter Bemalung? Dessen Inhalt verschlossen bleiben wird?
„Hans im Glück“ hat Susanne Roth dieses Multiple genannt. Das gleichnamige Märchen der Gebrüder Grimm erzählt von einem, dessen ganzer Verdienst aus sieben Jahren Lehrzeit in der Fremde sich durch unvorteilhafte Tauschgeschäfte auf dem Weg nach Hause in nichts auflöst. Reich hatte sein Lehrherr ihn entlohnt, mit einem Klumpen Gold, so groß wie Hansens Kopf. Doch Hans tauscht das Gold gegen ein Pferd, das Pferd gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und schließlich die Gans gegen einen Schleifstein, der ihm zu guter Letzt auf der Rast in den Brunnen fällt.
Susanne Roth hat sich gewissermaßen auf den umgekehrten Weg begeben. Bei ihr wird aus nichts oder fast nichts kostbare Fülle. Denn sie verwandelt Materialien, die nicht mehr gebraucht werden und die niemand mehr beachtet, in Objekte, die den Blick auf subtile Weise anziehen, die man ergründen möchte, die die Gedanken auf neue Wege führen und die man nicht so schnell vergisst. Häufig verwendet die Künstlerin alte, ungebrauchte Papiere oder farbige Kartons. Hier arbeitet sie mit Pappen, die vielleicht für ein Verpackungsdesign gedacht waren. Sie wurden zunächst mit Silberfarbe bedruckt, wobei jeweils etwa ein halber Zentimeter an den Längsseiten freiblieb. Unter entsprechender Aussparung von gut einem Millimeter Breite wurde über die silberne Fläche ein transparentes Orange gelegt. So entstand ein Goldton, der von zwei silbernen Streifen flankiert wird. Die Rückseite der Pappen blieb unbedruckt und wurde im Laufe der Zeit durch Lichteinfall an den Rändern gebräunt. Für jedes Exemplar der Auflage von „Hans im Glück“ hat Susanne Roth fünf dieser Kartons, drei vollständige und zwei zugeschnittene, ausgeklügelt montiert. Entstanden ist ein rätselhaftes Gebilde, das zwischen Flächigkeit und Dreidimensionalität, zwischen Bild und Objekt, zwischen Anklängen an altmeisterliche Tafelmalerei und Minimalismus changiert.
Susanne Roth braucht kein aufwendiges und teures Material für ihre Kunst. Mit präzisen Eingriffen bringt sie die verborgenen Qualitäten des Einfachen zum Vorschein und macht seine Herkunft vergessen. Dazu braucht sie vor allem einen offenen Blick, konzentrierte Vorstellungskraft und die Freiheit des Gedankens. „Hans im Glück“ ist nur vordergründig ein Tor, der aus Naivität sein Vermögen verspielt. Jeder Tausch, mag er noch so schlecht erscheinen, erleichtert ihn von einer Last. Am Ende seines Weges ist Hans vollkommen glücklich, weil er frei ist von allem, was ihn beschwert hat. Er hat seinen materiellen Reichtum verloren, aber die Freiheit des Geistes gewonnen - ohne die auch Kunst nicht denkbar ist.
Angela Wenzel, Fürth - Mai 2020
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1969 führt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Interview mit Theodor W. Adorno. Der Spiegel beginnt das Gespräch: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung…“. Adorno fällt dem Journalisten ins Wort und sagt: „Mir nicht.“
Vor kurzem schien die Welt noch in Ordnung. War sie aber nicht. Aber es war die uns vertraute Welt. Nun ist seit einigen Wochen vieles anders. Es wird von einer „neuen Normalität“ gesprochen. Was immer das auch sein mag. Zu dieser „neuen Normalität“ gehört, dass wir Freunde nicht mehr umarmen, Kultur- und Freizeitangebote fehlen, Reisen nicht unternommen werden, Begegnungen nicht stattfinden.
Aber Nachdenken dürfen, können, sollten wir. Darüber, was in dieser Welt bereits zuvor ganz und gar nicht in Ordnung war. So sind auch die kleinformatigen Zeichnungen der neuen Werkserie lichten von Andreas Oehlert ein Nachdenken. Über Struktur und Farbgebung, Rhythmus und Komposition, aber in besonderem Maße auch über diese unsere Welt. Sein „Selbstporträt“ lichten (9) bündelt viele dieser Gedanken: ein flammend orangefarbenes Antlitz; zwei Aureolen, ausgehend von Augen, die eindringlich, aber zugleich zweifelnd auf das Geschehen schauen. Es ist ein Blick, der ein Gegenüber braucht, da er eine Botschaft zu senden scheint und ein Zwiegespräch einfordert. Die aktuelle Werkreihe zeigt auch eine neue Technik: Auf allen Blättern entstehen Linien und Strukturen, indem Andreas Oehlert Farbpigmente mit Pinsel und Wasser wieder vorsichtig vom Papier abnimmt und den Zeichenprozess damit in sein Gegenteil verkehrt. Die Reihen lichten sich…
Dr. Harriet Zilch, Kuratorin an der Kunsthalle Nürnberg
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„Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran.“
(Robert Capa)
Nähe spielt in der Fotografie eine entscheidende Rolle. Nähe zum Menschen insbesondere. Genau die sollen wir in diesen Zeiten vermeiden.
Die drei Bilder, die ich zeige, sind Teil einer 45-teiligen Werkserie. Entstanden sind sie im Februar 2020 in Cusco. Also noch kurz vor dem Gebot des social distancing. Die unglaublich festen, schwarzen Haare und Zöpfe der Frauen aus dem Hochland Perus haben mich angezogen. Meine Suche konzentrierte sich auf Motive, die durch Farbigkeit und Stoffstrukturen einen Rahmen für Zöpfe im Zentrum bilden. Die Haare, die ich so in den Fokus rückte, faszinierten mich als Artefakte. Begegnungen mit fast schon skulpturalen Ergebnissen.
Die Zeit, Mitmenschen mit und ohne Fotografie wieder näher sein zu können, wird kommen. Bis dahin und darüber hinaus bin ich froh, dass es diese Bilder gibt.
Olaf Unverzart, 29. April 2020
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Die Auswirkungen der Corona-Krise haben uns alle fest im Griff. Ausstellungsbesuche in Museen und Institutionen sind derzeit nicht möglich. Allerorten wird Kunst virtuell vermittelt, im Sekundentakt werden neue Darstellungsmöglichkeiten im Internet aufgerufen. Für bildende Künstler*innen ist es - vielleicht in diesen Ausnahmezeiten einmal mehr - überlebenswichtig, das real existierende Kunstwerk zu erschaffen. Ist es doch Zeugnis aktueller Zustands- und Befindlichkeitsbeschreibung. So geschieht dies auch in den Ateliers unserer Galeriekünstler.
Da Galerien einzelnen Besuchern nach Vereinbarung Ausstellungsbesichtigungen ermöglichen können, lassen wir uns auf eine uns bisher unbekannte Präsentationsform ein: Mit neu entstandenen und derzeit entstehenden Werken starten wir eine Ausstellung, die am Beginn offen lässt, was am Ende zu sehen ist. Über einen Zeitraum von zwei Monaten werden wir Ihnen wöchentlich per Mailing die Werke der beteiligten Künstler vorstellen, die nach und nach unseren Galerieraum anfüllen. Den Anfang macht Olaf Unverzart, dessen Einzelausstellung in diesen Tagen im Rahmen des 1. Nürnberger Fotofestivals eröffnen sollte.
Wir laden Sie herzlich ein, Olaf Unverzart und weitere Künstler der Galerie peu à peu als Einzelbesucher im Galerieraum zu erleben.
Annette Oechsner, 22. April 2020