Titelgebend für die Ausstellung ANDREAS OEHLERT l i c h t e n, die sich ganz dem Papier widmet, ist die jüngste Serie von kleinformatigen Zeichnungen des Künstlers. Dazu schreibt Dr. Harriet Zilch:
1969 führte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Interview mit Theodor W. Adorno. Der Spiegel beginnt das Gespräch: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …“. Adorno fällt dem Journalisten ins Wort und sagt: „Mir nicht.“
Vor kurzem schien die Welt noch in Ordnung. War sie aber nicht. Aber es war die uns vertraute Welt. Seit einigen Monaten ist nun vieles anders. Es wird gar von einer „neuen Normalität“ gesprochen. Was immer das auch sein mag. Zu dieser „neuen Normalität“ gehört, dass wir Fragen, die den Einzelnen und damit stellvertretend die Gesellschaft betreffen, aus einer veränderten Perspektive betrachten. Fragen über unser Verhältnis zu einer globalisierten Wirtschaft, zu einer vor dem Kollaps stehenden Natur, zu einer permanenten Beschleunigung unseres Lebens, zur Demokratie und der damit verbundenen Gratwanderung zwischen Machtbefugnis und Machtbegrenzung … Zu dieser „neuen Normalität“ gehört auch, dass wir die Parameter unseres Zusammenlebens überdenken. Denn unvermittelt sind wir mit einer akuten Verwundbarkeit unserer Zivilisation konfrontiert, und es gehört zu unserem Alltag, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, die ein anonymes Gegenüber schützen. Doch sind Solidarität und Mitgefühl ausgeprägt genug, um persönliche Bedürfnisse dem Gemeinwohl unterzuordnen? Kann eine Humanisierung des Blicks gelingen oder werden wir uns im Widerstreit der Interessen verlieren?
Nachdenken dürfen, können, sollten wir. Über diese Fragen und auch darüber, was in dieser Welt bereits zuvor ganz und gar nicht in Ordnung war. So sind auch die kleinformatigen Zeichnungen der aktuellen Werkserie lichten von Andreas Oehlert ein Nachdenken. Über Struktur und Farbgebung, Komposition und Rhythmus, Räumlichkeit und Flächenaufteilung, aber in besonderem Maße auch über diese unsere Welt. Das „Selbstporträt“ lichten 9 bündelt viele dieser Gedanken: ein flammend orangefarbenes Antlitz; zwei Aureolen, ausgehend von mandelförmigen Augen, die eindringlich und zugleich zweifelnd auf das Geschehen schauen. Es ist ein Blick, der ein Gegenüber braucht, da er ein Zwiegespräch einfordert. Andere Blätter der aktuell 15 Zeichnungen umfassenden Serie, die zu Beginn und während der Corona-Pandemie entstand, zeigen überraschend Divergentes: eine von Nebelschwaden durchzogene Landschaft? Einen Totenkopf? Eine scharfkantige Struktur aus übereinanderliegenden Objektträgern? Bunte Lichtreflexe? Grüne Tropfen oder gar die Schuppen eines Meerjungfrauenschwanzes? Murmeln, von farbigen Glasfäden durchzogen? Ein kaleidoskopisches Gefüge aus Stäbchen, die im Bildvordergrund stets „Fünfe gerade“ sein lassen? Zwar schließen einzelne Zeichnungen dieser Serie durchaus Freundschaft, insgesamt erscheinen die Blätter jedoch heterogener als die vorangegangenen Werkserien Paroli (2018/19), grenzen (2017) und Erwartung (2015/16), die in einer konzentrierten Auswahl ebenfalls in der aktuellen Ausstellung vertreten sind. Vielleicht ist die überraschende Verschiedenartigkeit durch das Kleinformat provoziert, das wie eine Einladung zu einem ergebnisoffenen Experiment erscheint.
Das Großformat ist bei Andreas Oehlert ein künstlerischer, aber zugleich ein intellektueller wie strategischer Prozess, dem Schachspiel nicht unähnlich: Bei der Eröffnung sind die folgenden Züge bereits durchdacht. Der Farbkanon ist definiert und ein geometrisches, ornamentales oder organisches Prinzip wächst langsam über den Papierbogen. Das aktuelle Kleinformat erlaubt hingegen einen Beginn mit offenem Ende. Die lichten-Zeichnungen entstehen freier und intuitiver, da ein Richtungswechsel leichter zu akzeptieren ist. Die Komposition darf sich emanzipieren und ein Eigenleben entwickeln. Diese Offenheit sowie die Intimität des Formats befördern den Eindruck, die Blätter seien eine Art visuelles Tagebuch: In einem Diarium thematisiert der Verfasser seine Eindrücke und Gefühle und schreibt diese spontan nieder. Es handelt sich nicht um eine komponierte Erzählung oder gar um einen durchkonstruierten Roman, sondern es sind Gedankenspiele, die erlauben, einen Einfall zu formulieren und ihn mäandern zu lassen, ohne zu wissen, wohin er führen wird. Auch die Zeichnungen der Werkserie lichten erscheinen als unmittelbare Reaktion auf alltägliche Wahrnehmungen und Empfindungen. Das Resultat überrascht. Bisweilen sogar den Künstler selbst … Paul Klee soll zu seinem frühen Monografen Hans-Friedrich Geist einmal gesagt haben: „Ich bin zum Schluss selbst Betrachter und lasse mich beschenken.“
Den Betrachter überrascht auch eine neue Technik, die bei der aktuellen Werkserie konsequent Verwendung findet: Auf allen Blättern entstehen Linien und Strukturen, indem Andreas Oehlert Farbpigmente mit Pinsel und Wasser wieder vorsichtig vom Papier abnimmt und den Zeichenprozess damit in sein Gegenteil verkehrt. Bei diesem Prozess wird die Papieroberfläche leicht angeraut und die Zeichnung gewinnt eine größere Stofflichkeit und malerische Weichheit. Die Bildhauerei unterscheidet traditionell zwischen Skulptur und Plastik und damit zwischen einem subtraktiven und einem additiven Verfahren. In der Malerei oder Zeichnung kennen wir diese Unterscheidung nicht. Jedoch scheinen die lichten-Zeichnungen mit dieser Vorstellung zu experimentieren: Auf ein additives folgt ein subtraktives Verfahren, welches die Komposition verdichtet und Schwerpunkte setzt.
Andreas Oehlert präsentiert in seiner Ausstellung lichten in der oechsner galerie erstmals ausschließlich Zeichnungen. Zugleich ist sein installatives Denken der Präsentation genuin eingewoben: So ist eine doppelseitig angelegte, großformatige Zeichnung aus der Werkserie grenzen objekthaft in einer hölzernen Vitrine präsentiert. Formal ermöglicht dies die Betrachtung der beiden gleichberechtigten Bildseiten. Zugleich spielt die Präsentationsform mit Raum und Räumlichkeit und der Vorstellung eines Davor und eines Dahinter. Beide Bildseiten können nie zugleich gesehen werden. Der eine Standort und die eine Perspektive sind bereits zu einer Erinnerung geworden, wenn der Blick auf Neues fällt. Auch motivisch vermittelt sich dieser Gedanke: Das Blatt zeigt eine an Maschendrahtzaun erinnernde Struktur als Grenze zwischen zwei Orten, als Barriere zwischen zwei Perspektiven. Ebenso wie bei der aktuellen lichten-Werkreihe für Andreas Oehlert die Corona-Pandemie als ein gedanklicher Subtext mitschwingt, ohne dabei eindimensional illustriert zu werden, reagieren seine Zeichnungen der grenzen-Serie auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ der Jahre 2015/16.
Um mit dem Augenfälligsten zu enden: Der Boden des Galerieraums ist mit abertausenden Konfettischnipseln bedeckt. Dies verbindet alle Werke und lässt den Ausstellungsraum zu einem installativen Gesamtkunstwerk werden. Mit Leichtigkeit und Lichtheit feiert Andreas Oehlerts Ausstellung lichten die Zuversicht und bietet Konfetti gegen die Irrungen und Wirrungen der Welt. Zugleich klingt in ihr Melancholie, Irritation und Zweifel an. Das Konfetti fliegt uns nicht aus Kanonen entgegen und rieselt nicht als bunter Regen von der Decke herab. Es liegt am Boden. Die Party ist vorbei. Die Reihen lichten sich …
Harriet Zilch, im Juli 2020